Akademik

Tierdichtung
Tierdichtung,
 
Sammelbegriff für literarische Werke, in denen Tiere als handelnde Figuren im Mittelpunkt stehen. Diese behalten ihre tierische Erscheinungsform, agieren jedoch mit menschlichen Charakterzügen. Zu unterscheiden sind Tierepos, Tierfabel, Tiermärchen, Tiersage, Tierbuch und Tierroman. Populärste Form der Tierdichtung ist die Tierfabel (Fabel), die bereits im alten Indien (Pancatantra, Kalila und Dimna) und Ägypten verbreitet war. Die Fabeln der griechischen Antike sind mit dem legendären Namen des Aisopos verbunden, sie beeinflussten über Babrios, Avianus, Phaedrus u. a. die gesamte europäische Tierdichtung. Ihre wichtigste mittelalterliche Form ist die in moralisierender Absicht abgefasste und v. a. auf eine typologische Ausdeutung hin konzipierte Schilderung tatsächlicher oder vermeintlicher Merkmale oder Verhaltensweisen von Tieren in den Bestiarien (Bestiarium). Wichtigste Quelle hierfür war der Physiologus. Das Tierepos als literarische Großform benutzt das Figurenensemble der Tierfabel, beschränkt jedoch die Anthropomorphisierung der Tiere auf typische Charakterzüge, als (didaktisch-satirische) Widerspiegelung sozialer Verhältnisse und menschlichen Verhaltens. Ältestes Tierepos ist die Versdichtung Batrachomyomachie (»Froschmäusekrieg«, 3. Jahrhundert), das bis in das späte Mittelalter und in die frühe Neuzeit hinein Übersetzungen und Nachahmungen fand (u. a. J. Fischart, G. Rollenhagen). Wichtige europäische Tierepen des Mittelalters sind neben der aus dem 11. Jahrhundert stammenden »Ecbasis captivi« v. a. der lateinische »Ysengrimus« (Mitte 12. Jahrhundert) des Nivardus von Gent und der altfranzösische »Roman de Renart«. Auf ihnen beruht die weitere literarische Tradition um Reinecke Fuchs, die bis zu Goethes Bearbeitung (»Reineke Fuchs«, 1794) reicht.
 
Die Tierfabel erlebte im 17. Jahrhundert bei J. de La Fontaine in Frankreich, später auch in Deutschland bei C. F. Gellert, J. W. L. Gleim, J. G. Herder und G. E. Lessing eine neue Blütezeit. Die Tradition der Tierdichtung setzt sich fort in E. T. A. Hoffmanns fragmentarischem Roman »Lebens-Ansichten des Katers Murr. ..« (2 Bände, 1819-21), H. Heines Versepos »Atta Troll« (1847), im 20. Jahrhundert u. a. in den Tiererzählungen M. Kybers (»Unter Tieren«, 1912), K. A. Gjellerups (»Das heiligste Tier«, 1919) und G. Orwells (»Animal Farm«, 1945).
 
Als neuer Zweig der Tierdichtung entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert der Tierroman beziehungsweise innerhalb der sich ausbildenden Kinder- und Jugendliteratur das Tierbuch mit sprechenden und handelnden Tieren. Das Tier wird nun auch in seinem Eigenleben und in seiner natürlichen Umwelt beschrieben (z. B. B. Berg, S. Fleuron, H. Löns, E. T. Seton), doch übertragen auch zahlreiche Tierbücher menschlicher Züge und Eigenarten auf Tiere und stellen sie als Freunde, Verwandte und Helfer dar, so etwa R. Kipling (»The jungle book«, 1894), J. London (»White Fang«, 1896), W. Bonsels (»Die Biene Maja und ihre Abenteuer«, 1912). Daneben stehen solche Werke, in denen ein Tierschicksal eng mit den Geschicken eines Menschen verknüpft ist (z. B. H. Melville, »Moby-Dick or, The whale«, 1851; T. Mann, »Herr und Hund«, 1919; E. Hemingway, »The old man and the sea«, 1952).
 
Zahlreiche Märchen berichten von Begegnungen mit zauberkräftigen, hilfreichen oder dankbaren Tieren, von Tierverwandlungen und (Ehe-)Gemeinschaft mit Tieren. In diesen Tiermärchen im weiteren Sinn werden die Tierfiguren als eigenständige Handlungsträger neben den menschlichen Märchenhelden oder als deren Metamorphosen ins Spiel gebracht. Tiermärchen im engeren Sinn handeln vom Zusammenleben der Tiere und von daraus entstehenden Konflikten (»Krieg der Tiere«). Hier treten als Handlungsträger ausschließlich Tiere auf, Menschen kommen allenfalls in untergeordneten Rollen vor. In Zaubermärchen und Legenden begegnen sie als zentrale Figuren in der Rolle dankbarer und hilfreicher Tiere und erfüllen im Dienste der Protagonisten scheinbar unlösbare Aufgaben. Die aus vielen Teilen der Welt bekannten ätiologischen Tiersagen wollen Eigenschaften von Tieren erklären beziehungsweise die Ursache ihrer Erschaffung begründen. In Tiererzählungen der Naturvölker haben oftmals religiöse Vorstellungen ihren Niederschlag gefunden. Deutlich wird dabei der Zusammenhang mit alten Mythen, in denen das Tier noch dem Menschen gleichberechtigt oder sogar höherrangig gegenübersteht. In totemistischen Kulturen wird v. a. die Mensch-Tier- beziehungsweise Tier-Mensch-Verwandlung thematisiert. Tierschwänke zeigen eine starke thematische Affinität zur knappen Fabel, bilden aber häufig Zyklen. Die moralische Ausdeutung fehlt, es überwiegt die Freude an der Überlistung des Gegners. Tiere agieren in komischen Situationen, schädigen sich selbst unbewusst oder lassen sich durch andere Tiere zu für sie nachteiligen Handlungen verleiten. Dabei haben die Völker ihre jeweiligen Lieblingstiere, die als zentrale Figuren substituiert und keineswegs nur auf die aus Fabeln bekannten »klassischen« Charakteristika festgelegt werden können. Rolle und Funktion, die in Mittel- und Nordeuropa der Fuchs spielt, nimmt in Afrika und bei der afroamerikanischen Bevölkerung Nordamerikas der Hase beziehungsweise das Kaninchen (»Brer Rabbit«) ein; in Westafrika, auf Jamaika und in Surinam agiert die trickreiche Spinne, in Indien und in Teilen Afrikas der durchtriebene Schakal, bei den Malaien der Zwerghirsch mit diesen Charakteristika und bei den Indianern Nordamerikas der Kojote.
 
Literatur:
 
O. Keller: Die antike Tierwelt, 2 Bde. (1909-13, Nachdr. 1980);
 A. L. Sells: Animal poetry in French and English literature and the Greek tradition (London 1957);
 H. R. Jauss: Unters. zur mittelalterl. T. (1959);
 
Das Tier in der Dichtung, hg. v. U. Schwab (1970);
 
Aspects of the medieval animal epic, hg. v. E. Rombauts u. a. (Löwen 1975);
 N. Henkel: Studien zum Physiologus im MA. (1976);
 K. Grubmüller: Meister Esopus. Unters. zu Gesch. u. Funktion der Fabel im MA. (Zürich 1977);
 F. P. Knapp: Das lat. Tierepos (1979);
 L. Röhrich: Märchen u. Wirklichkeit (41979);
 C. Lecouteux: Les monstres dans la littérature allemande du moyen âge, 3 Bde. (Göppingen 1982);
 R. Tremain: The animals Who's Who (London 1982);
 
Fabelforschung, hg. v. P. Hasubek (1983);
 E. Brunner-Traut: Altägypt. Tiergesch. u. Fabel (71984);
 P. Carnes: Fable scholarship (New York 1985);
 G. Dicke u. K. Grubmüller: Die Fabeln des MA. u. der frühen Neuzeit (1987);
 
Atti del V. Colloquio della International Beast Epic, Fable and Fabliau Society, hg. v. G. Mombello u. a. (Alessandria 1987);
 
Die dt. u. lat. Fabel in der frühen Neuzeit, hg. v. A. Elschenbroich, 2 Bde. (1990);
 R. Weick: Der Habicht in der dt. Dichtung des 12. bis 16. Jh. (1993).

* * *

Tier|dich|tung, die: vgl. ↑Tierbuch.

Universal-Lexikon. 2012.