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soziale Marktwirtschaft
soziale Marktwirtschaft,
 
Leitbild einer Wirtschaftsordnung, die eine Marktwirtschaft mit staatlichen Maßnahmen verbindet, um sozial nicht vertretbare Folgen einer solchen Marktwirtschaft zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Das Prinzip des freien Marktes sollte um die Idee des sozialen Ausgleichs ergänzt werden. Dahinter steht die Vorstellung, dass der moderne Staat nicht nur für die Bewahrung des (Rechts-)Friedens nach innen und außen zu sorgen habe, sondern als »demokratischer und sozialer Rechtsstaat« verpflichtet sei, die Bürger im wirtschaftlichen Bereich vor unbilligen Folgen des Marktprozesses zu schützen (Rechtsstaat, Sozialstaat). Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft entstand in Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bezeichnung geht zurück auf A. Müller-Armack, der in diesem Leitbild Elemente des Neoliberalismus und der christlichen Soziallehre zu einem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus verband. Politisch durchgesetzt hat das Konzept L. Erhard, zunächst innerhalb der CDU in den »Düsseldorfer Leitsätzen« gegen Vorstellungen eines christlichen Sozialismus, wie sie noch im Ahlener Programm formuliert wurden, später als erster Wirtschaftsminister der BRD.
 
Zentrales Ordnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft ist ein funktionsfähiger Wettbewerb. Deshalb besteht eine wichtige staatliche Aufgabe darin, zu große Machtanhäufungen in den Händen von Unternehmen oder Unternehmensgruppen möglichst zu verhindern und Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch zu treffen. Zu diesem Zweck setzte Erhard das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1957) durch und sicherte damit den Wettbewerb auf den meisten Gütermärkten (auch im Bereich des Außenhandels).
 
Ob das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft mit prozesspolitischen Eingriffen im Sinne eines antizyklischen Einsatzes von Geld-, Fiskal- oder Einkommenspolitik vereinbar ist oder lediglich die negativen sozial- und verteilungspolitischen Folgen von konjunkturellen Schwankungen abgemildert werden sollten, ist umstritten. Einigkeit besteht hingegen darin, dass eine Wachstumsförderung durch gezielte Interventionen bis hin zur sektoralen Investitionslenkung kein Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft sein kann: Wirtschaftliches Wachstum wird primär als Ergebnis der Leistungsanreize durch Wettbewerb sowie einer erfolgreichen Konjunkturpolitik gesehen.
 
Der Steuerungsbedarf nach sozialen Gesichtspunkten wird v. a. daraus abgeleitet, dass die Einkommensverteilung, wie sie sich aus dem marktwirtschaftlichen Produktionsprozess und der Vermögensverteilung ergibt, nicht als gerecht angesehen wird. Marktergebnis und Erwerbschancen sollen durch die Fiskalpolitik (progressive Einkommen- und Vermögensteuern einerseits sowie Steuererleichterungen und Transfers andererseits) und durch unentgeltliche beziehungsweise finanziell geförderte Ausbildung korrigiert werden. Soziale Sicherheit als zweites Element der sozialen Komponente des Leitbilds soll dadurch herbeigeführt werden, dass Anpassungen an Änderungen der Wirtschaftsstruktur erleichtert werden. Individuelle wirtschaftliche Sicherheit ist das Ziel der Förderung breit gestreuter Vermögensbildung. Die eigenverantwortliche Daseinsvorsorge wird ergänzt durch ein System der sozialen Sicherung gegen individuelle Notlagen aufgrund von Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse wird als Sozialpartnerschaft interpretiert, die v. a. durch Autonomie der Tarifparteien, Betriebsverfassung und - wenn auch anfänglich nicht in dem Umfang - durch Mitbestimmung im Unternehmen angestrebt wird. Sämtliche Eingriffe des Staates in die Wirtschaft dürfen die marktwirtschaftlichen Steuerung nicht außer Kraft setzen, d. h., sie müssen marktkonform sein.
 
Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft ist kein statisch fixiertes Gebilde. Schon Müller-Armack präsentierte sie als einen »der Ausgestaltung harrenden, progressiven Stilgedanken«. In diesem Sinne muss die soziale Marktwirtschaft weiterentwickelt werden, um Antworten auf neue Fragen geben zu können. Zu den neuen Problemfeldern, mit denen das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft konfrontiert ist, gehören v. a.: Transformation in den neuen Bundesländern, Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und damit verbunden hohe Arbeitslosigkeit sowie Einengung von Verteilungsspielräumen, Verschärfung des Wettbewerbsdrucks und Begrenzung der Handlungsspielräume nationaler Wirtschaftspolitik durch Globalisierung, demographische Entwicklung und langfristige Finanzierbarkeit bestehender sozialer Sicherungssysteme. Die Schwierigkeiten, denen sich die soziale Marktwirtschaft bei der Bewältigung dieser Problembereiche gegenübersieht, machen sie keinesfalls überflüssig. Allerdings ist für ihre Vertreter der Legitimierungszwang gegenüber der Zeit, in der das deutsche »Wirtschaftswunder« auch international als Erfolg der sozialen Marktwirtschaft angesehen wurde, deutlich gestiegen.
 
Literatur:
 
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 E. Helmstädter: Perspektiven der s. M. Ordnung u. Dynamik des Wettbewerbs (1996);
 
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 H. Lampert: Die Wirtschafts- u. Sozialordnung der Bundesrepublik Dtl. (131997);
 
50 Jahre S. M., hg. v. D. Cassel (1998);
 V. Hentschel: L. E., die »soziale Marktwirtschaft« u. das Wirtschaftswunder (1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Soziale Marktwirtschaft: Grundlagen und Grundprobleme
 

Universal-Lexikon. 2012.