Perversionen,
ursprünglich religiöser Begriff für Ketzerei, der im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Kennzeichnung »falschen« oder vermeintlich schädlichen Sexualverhaltens angewendet wurde und auch in der heutigen Umgangssprache meist noch sehr stark wertend benutzt wird. Sexualmedizin und Sexualpsychologie bezeichnen eine solche Einstellung als wissenschaftlich unhaltbar, weil sie voraussetze, dass es ein von Natur aus »richtiges« Sexualverhalten gebe. Bei der Einstufung und Behandlung sexueller Störungen (das heißt von der jeweiligen Kultur als anormal angesehenen Abweichungen) wurde der Begriff der sexuellen Perversionen deshalb auf bestimmte, suchtähnliche Sexualpraktiken begrenzt, ohne deren Ausübung keine sexuelle Befriedigung beziehungsweise kein Orgasmus erlangt werden kann. In diesem Sinne werden z. B. männliche wie weibliche Homosexualität heute nicht mehr als Perversionen bewertet.
In den neuesten Fassungen der beiden führenden internationalen Klassifikationen von Krankheiten, dem vor allem in den USA gebräuchlichen Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, vierte Ausgabe (DSM-IV, 1994) und der vor allem in Europa benutzten Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, zehnte Ausgabe (ICD-10, 1993) kommt der Begriff Perversion überhaupt nicht mehr vor. Das DSM-IV nennt unter Paraphilien (das sind alle an außergewöhnliche Bedingungen geknüpfte Formen sexueller Befriedigung) insgesamt neun Formen: Exhibitionismus, Fetischismus, Frotteurismus (Frotteur), Pädophilie, sexueller Masochismus, sexueller Sadismus, Voyeurismus, transvestitischer Fetischismus (Transvestismus) sowie alle nicht näher bezeichneten Paraphilien. In der ICD-10 werden den »Störungen der Sexualpräferenz« (Präferenz bedeutet hier Bevorzugung) zwar ebenfalls neun, zum Teil jedoch unterschiedliche Kategorien sexueller Perversionen zugerechnet: Exhibitionismus, Fetischismus, Pädophilie, Sadomasochismus, Voyeurismus, fetischistischer Transvestismus, multiple Störungen der Sexualpräferenz, andere Störungen der Sexualpräferenz sowie nicht näher bezeichnete Störungen der Sexualpräferenz. Bedeutende deutsche Sexualwissenschaftler wie Volkmar Sigusch (1996) halten solche Klassifikationen sexueller Störungen allerdings für wenig hilfreich, da sie »mehr ausblenden, als sie zu beleuchten vermögen« und miteinander verbundene Lebensbereiche und Lebensäußerungen künstlich trennten.
Älterer psychoanalytischer Auffassung (insbesondere der von Sigmund Freud, formulierten Theorie) zufolge wurden Perversionen als Entwicklungsstörungen bewertet, bei denen das Individuum auf frühkindliche sexuelle Teiltriebe (Partialtriebe) zurückgeworfen und »fixiert« werde ( Regression). Neuere psychoanalytische Ansätze heben bei der Perversionsbildung dagegen das Moment der Entfremdung zwischen Mutter und Kind (Masud Khan, 1983) oder das Zurückfallen in die »anale Welt« und die damit einhergehende Verleugnung des Ödipuskomplexes (Janine Chasseguet-Smirgel, 1986) hervor.
Was die Therapie sexueller Perversionen betrifft, so gelten diese, ihres besonderen Lustgewinns wegen, als schwer zu behandelnde Störungen. In Therapeutenkreisen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, Perversionen nicht »heilen« zu können, sondern die Patienten vielmehr mit diesem oft als wesensfremd empfundenen Anteil ihrer Persönlichkeit zu »versöhnen« und sie dadurch vor psychischen Störungen zu bewahren.
Universal-Lexikon. 2012.