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ästhetische Erziehung
ästhetische Erziehung,
 
im 18. Jahrhundert geprägter Begriff, verstanden als ein Prinzip der Menschenbildung. Für Schiller (»Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«, veröffentlicht 1795 in »Die Horen«; zweite Fassung 1895) ist ästhetisches Verhalten Ziel der ästhetischen Erziehung; sie ist Voraussetzung für die Teilhabe des Menschen an Moralität und Freiheit. Kunst verbindet den sinnlichen »Stofftrieb« im freien »Spieltrieb« mit dem vernünftigen »Formtrieb«, es ist die Schönheit, »durch welche man zu der Freiheit wandert«. Auf politischer Ebene ist die höchste Form der »ästhetische Staat«. Anknüpfend an I. Kant und Schiller, ist für W. von Humboldt und den Neuhumanismus die ästhetische Erziehung mit Erziehung überhaupt identisch, denn ästhetische Erziehung ist politische Erziehung. J. F. Herbart bezeichnet 1804 die »ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung«. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die ästhetische Erziehung auf eine Möglichkeit unter vielen reduziert (G. W. F. Hegel, A. Schopenhauer, F. T. Vischer) und zunehmend ein Ressort der esoterischen Innerlichkeit (F. Nietzsche, W. Dilthey). Andererseits wurde das Kunstwerk Gegenstand von Spezialwissenschaften. Die Kunsterziehungsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die künstlerischen Fähigkeiten jedes Menschen betont und den Kunstunterricht als persönlichkeitsbildendes Schulfach neu begründet. Dieses Verständnis der Kunsterziehung als musische Bildung wirkt bis heute weiter im traditionellen Verständnis musischer Fächer, insbesondere in der Orientierung an den Kriterien Kreativität, Sensibilität und Selbstverwirklichung und in der Schulung am (großen) Kunstwerk. Seit Ende der 60er-Jahre wurde der Begriff ästhetische Erziehung neu aufgegriffen, und zwar als Gegenentwurf zur traditionellen Kunsterziehung. Diese v. a. als kunstpädagogische Diskussion geführte Bewegung (ästhetische Erziehung oder »visuelle Kommunikation«) gründet in einem emanzipatorisch-gesellschaftskritischen Ansatz. Ihm dient die geforderte systematische Ausbildung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, wobei eine grundsätzliche Unterscheidung von Wahrnehmung (sinnliche Erkenntnis) und ästhetische Wahrnehmung (Kunstwahrnehmung) nicht angenommen wird oder wurde. Entsprechend wurde das Gegenstandsfeld auf die gesamte gestaltete Umwelt ausgedehnt, besonders auf Erscheinungen der zeitgenössischen Massenkultur.
 
Literatur:
 
H. R. Jauss: Kleine Apologie der ästhet. Erfahrung (1972);
 H. Nitschack: Kritik der ästhet. Wirklichkeitskonstitution. Eine Unters. zu den ästhet. Schriften Kants u. Schillers (1976);
 
Ä. E. als Wiss. Probleme, Positionen, Perspektiven, hg. v. H. Daucher u. K.-P. Sprinkart (1979);
 G. Selle: Kultur der Sinne u. ä. E. (1981);
 K.-S. Richter-Reichenbach: Bildungstheorie u. ä. E. heute (1983);
 O. H. Goy: Neopragmat. Ästhetik. Grundl. einer zeitgemäßen Ästhetik des Visuellen u. ihrer Didaktik (1984);
 H. von Hentig: Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ä. E. (1985).

Universal-Lexikon. 2012.