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Shivaismus
Shivaịsmus
 
[ʃ-] der, -, Shaivịsmus, Hauptrichtung des Hinduismus, in der Shiva als höchster Gott verehrt wird. Das genaue Alter des Shivaismus, dessen Spuren sich bis in das 2. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen lassen, bleibt im Dunkeln. Er entwickelte sich in vielfacher Analogie zu dem älteren Vishnuismus, von dem er sich im Kult durch Yogapraktiken und Riten des Tantrismus unterscheidet. Seine Zentren liegen in Kaschmir, Bengalen und Südindien. Auch nach Nepal, Hinterindien und Indonesien hat sich der Shivaismus ausgebreitet. - Früheste Quellen für den Shivaismus sind die überwiegend vishnuitischen Puranas und das Mahabharata, in dem die von dem legendären Hindu-Asketen Lakulisha begründete shivaitische Schule der Pashupatas zuerst erwähnt wird. Diese am Ende des Mittelalters untergegangene Richtung verehrte Shiva als »Herrn der Tiere«. Nach ihrer Lehre muss die »Tier« (Sanskrit pashu) genannte Seele aus den Fesseln der Materie durch Yoga auf den »Herrn« (Sanskrit pati), d. h. Shiva, hin erlöst werden. - Wenig bekannt sind die Kapalikas, »Schädelträger«, eine ebenfalls untergegangene, seit dem 6. Jahrhundert nachweisbare shivaitische Schule, die sich durch besonders extreme Askese und durch ungewöhnliche Handlungen wie den Verzehr von Exkrementen als Weg zur Erlösung auszeichnete. - Die Schule der Natha-Shaivas, deren Lehrer »Schützer« (Sanskrit natha) genannt werden, entstand gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Bengalen. Die Natha-Shaivas streben durch den von ihnen entwickelten Hatha-Yoga nach Überwindung des Todes. Ihr hervorragendster Vertreter, Gorakhnat, hat heute sein Hauptheiligtum in Gorakhpur. Zu seinen Anhängern zählen die nach ihren aufgespaltenen Ohrläppchen Kanphata (»Ohrspalter«) genannten Yogis. - Die Raseshvaras suchen ein Leben nach dem Tode durch die Konservierung ihres Körpers mithilfe von Quecksilber zu sichern. - Der im 8./9. Jahrhundert in Kaschmir entstandene, unter dem Namen Trika (»Dreiheit«) oder Pratyabhijna (»Wiedererkennung«) bekannte Shivaismus lehrt ein streng monistisches System, in dem Shiva mit der Allseele gleichgesetzt wird. Als größter Denker dieser Schule gilt Abhinavagupta. - Der Shivaismus des Südens gründet sich auf die 28 »Traditionstexte«, die wohl seit dem 8. Jahrhundert entstanden sind und auch dem kaschmirischen Shivaismus zugrunde liegen. Etwa in dieselbe Zeit gehören die »Herren« (Tamil nayanar), deren Werke erst seit dem 10./11. Jahrhundert gesammelt vorliegen. Diese Gruppe von Heiligen, zu denen Sambandar und Appar (beide im 7. Jahrhundert) zählen, legte zusammen mit der Lehre der Traditionstexte die Grundlage des im 13. Jahrhundert von Meykandadeva ausgeformten Shaivasiddhanta, der »endgültigen Lehrmeinung der Shaivas«. Nach dieser dualistischen Lehre sind neben Shiva und seiner Shakti auch die Existenz der Welt und die Seelen ewig, die auf einem langen Weg durch stufenweise Läuterung zu Shiva emporsteigen können. - Die von Basava wohl im 12. Jahrhundert in Karnataka gegründete shivaitische Schule der Virashaivas oder Lingayatas verwirft brahmanische Traditionen wie das Kastenwesen und die Autorität des Veda. Auch sie lehrt ein dualistisches System, in dem die Bhakti zur Erlösung führt. - Eine sehr späte Schule sind die Siddhas, »die Vollkommenen«, die sich im 17./18. Jahrhundert entwickelten und einen puritanischen Monotheismus verfolgen.
 
Literatur:
 
H. W. Schomerus: Der Çaiva-Siddhānta, eine Mystik Indiens (1912);
 Friedrich A. Schultz: Die philosophisch-theolog. Lehren des Pāśupata-Systems nach dem Pañcārthabhāṣya u. der Ratnaḳīkā (1958);
 E. Frauwallner: Aus der Philosophie der śivait. Systeme (Berlin-Ost 1962);
 R. G. Bhandarkar: Vaiṣṇaivism, Śaivism and minor religious systems (Neuausg. Varanasi 1965);
 M. Dhavamony: Love of god according to Śaiva Siddhānta (Oxford 1971).

Universal-Lexikon. 2012.