Akademik

Weltmusik - Neuen musikalischen Erfahrungen auf der Spur
Weltmusik - Neuen musikalischen Erfahrungen auf der Spur
 
Für die einen ist »Weltmusik« die friedliche Koexistenz von Musiken aller Kulturen, für andere das weltweite Monopol der europäischen Kunstmusik, für dritte ist es die Idee einer weltumfassenden neuen Musik und wieder andere sprechen von einer bereichernden Vermischung von Musiken verschiedener Kulturen. Der schillernde Begriff der »Weltmusik« (»world music«) ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Gespräch.
 
Um 1900 sah man überall in Europa die Musik, wie der französische Komponist Camille Saint-Saëns damals formulierte, »an die Grenze ihrer Entwicklungsphase angelangt; die Tonalität, welche die moderne Harmonie erzeugt hat, ringt mit dem Tode.« Unterschiedliche Auswege wurden erprobt, darunter auch die Vision einer musikalischen Regeneration durch den Orient und einer bevorstehenden Epoche der Exotik, der »Weltmusik«. Seit dem regen Interesse der französischen Impressionisten an Fernöstlichem als Legitimation des eigenen Musikstils lässt eine enorme Spannbreite - vom Südseeschlager über die Verpoppung balinesischer Volksmusik bis hin zur Internationalisierung der Avantgardemusik - die erheblichen Auswirkungen der Hinwendung zu außereuropäischer, ethnischer Musik erkennen.
 
Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik kann jede Musikart an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit gehört und verarbeitet werden. Die Tendenz zur interkulturellen Musikaneignung signalisiert grundsätzliche Veränderungen im Musik- und Weltverständnis des ausgehenden Jahrhunderts. Doch handelt es sich in den seltensten Fällen um wirkliche Wechselwirkungen, sondern überwiegend um Integration von anderen, »fremden« Musikrichtungen, wie auch schon in früheren Jahrhunderten. Exotische Zutaten wie in Giacomo Puccinis »Madame Butterfly«, Adaptation früher Jazzformen in der Kunstmusik der Zwanzigerjahre, der Folklore-Idiomatik bei Béla Bartók, Montage beziehungsweise Sampling verschiedenster Musiken, wie in Karlheinz Stockhausens »Hymnen für elektronische und konkrete Klänge« (1996/97): Bei all diesen unterschiedlichen weltmusikalischen Aneignungsweisen wird »Fremdes« in musikalische und geistige Zusammenhänge integriert, die nicht originär, sondern in gewisser Weise verfälschend sind.
 
Weltmusik ist grundsätzlich eine von den Industriestaaten ausgehende Inszenierung interkultureller Kommunikation. Die entscheidende Frage ist, wie dieser Widerspruch produktiv genutzt wird. »Fusion«, »Crossover« und andere Spielarten der »Weltmusik« bewegen sich im Spannungsfeld von Fremdheit und Vertrautheit. Dabei sind jedoch die Unterschiede zwischen den Kulturen genauso wichtig wie ihre Gemeinsamkeiten
 
»Was ich sehe in der Musik, ist etwas Totales. .. die Musik der ganzen Welt ist miteinander verbunden«, sagte der amerikanische Jazz-Pianist McCoy Tyner. Mit den Berliner Jazztagen 1967 begann unter der Rubrik »Jazz Meets The World« ein Prozess der Integration außereuropäischer Musikkulturen. Der Bebop-Saxophonist Yusef Lateef trat zum moslemischen Glauben über und spielte arabische Musik; John Coltrane integrierte indische und nordafrikanische Elemente und den Flamenco in seine Musik. Japanische Koto-Musik, Tibetanisches und Balinesisches wurden seitdem in den Jazz einbezogen.
 
Zu Beginn der Siebzigerjahre tauchte der Begriff »Weltmusik« auch in der Neue Musik-Szene in Deutschland auf, zunächst bei Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel und Peter Michael Hamel. In Stockhausens »Telemusik« (1966) werden rein elektronische Klänge mit originalen Tonaufnahmen aus aller Welt, wie etwa Gesängen aus dem Amazonasgebiet, einer japanischen Tempelzeremonie und einem spanischen Dorffest miteinander verbunden. Im Zentrum steht die Absicht, die vom Zerfall bedrohte Kultur außereuropäischer Länder durch komponierte Weltmusik zu bewahren. Peter Michael Hamel entwickelte in der Improvisationsgruppe »Between« und in Orchesterwerken wie »Diaphainon. Materialien zu einer integralen Musik für Orchester« (1976) das Konzept eines Komponierens auf der Grundlage »intuitiver Spontaneität« - Integration der Musiken der Welt, letztendlich aber zum eurozentristischen Eigennutz, zur Vertiefung der Selbsterfahrung: »Eine integrale Weltmusik benötigt als Voraussetzung die intuitive Spontaneität, wie sie dem einen oder anderen Komponisten der letzten Jahrzehnte zwar gegenwärtig sein dürfte, wie sie aber vor allem im Prozess der intuitiven Improvisation schöpferisch vorausgeahnt wird. .. doch gerade der improvisatorische Prozess führt viele junge Musiker in den letzten Jahren zu einer tieferen Selbsterfahrung und war der erste Schritt auf dem Weg zur musikalischen Integration.«
 
Ebenfalls in den Siebzigerjahren erreichte Joachim Ernst Behrendt, dass in einer der bundesdeutschen Hochburgen der Neuen Musik, bei den Donaueschinger Musiktagen, Jazz-Sessions zugelassen wurden. Im Zentrum seines Engagements für den Freejazz steht - unter Berufung auf Jean Gebsers Bewusstseinsstufen, das Konzept der »Bewusstseinsintensivierung«: »Die Verzweiflung, mit der die Freejazzer um immer noch größere Intensität rangen, die Verzweiflung, die - bei Coltrane, bei Albert Ayler - in Depressionen angesichts der letztlich eben nicht - noch nicht! - erreichbaren neuen »Bewusstseinsintensität« endete. . das alles gewinnt eine signifikante Bedeutung, die weit hinausgeht über die fanhafte Begeisterung an der Musik als solcher.«
 
Seit 1987 besuchten jährlich circa 25 000 Menschen in 25 deutschen Städten die Tourneen »KlangWelten - Das Festival meditativer Musik«, bei denen ein ethnisch gemischtes Ensemble die unterschiedlichsten Musiken programmatisch nebeneinander stellt: von keltischer Harfenmusik über Jazzimprovisationen auf arabischer Skala und Kompositonen von Arvo Pärt, zu Didjeridu-Musik aus Australien, tibetanischen Klangschalen und kanadisch-arktischem kehligem Singen (»Throat-singing«). Die Offenheit für die anderen, für neue musikalische Erfahrungen in der Programmgestaltung grenzt sich jedoch, wie der künstlerische Leiter bekennt, gegenüber weltweit verbreiteter Rock-Popmusik genauso ab wie gegenüber aufdringlich klassischer und kommerziell-modischer Musik: »KlangWelten ist - wie der Plural es andeutet - ein offenes Konzept, nicht religiös, politisch, kulturell, stilistisch festgelegt. Die Vielfalt als Prinzip. Allerdings wollten wir immer das draußen lassen, was sich sowieso durchsetzt: die aufdringliche, oberflächliche, kommerzorientierte, kurzlebig-modische Musik. In einer Zeit, in der die Kulturen nicht mehr starr auf sich beruhen, sondern in einen Dialog eintreten, zwar mit den Wurzeln des Eigenen, Bekanntem, aber den anderen mit offenen Herzen zugewandt. Um diesen Dialog möglich zu machen, muss man die anderen überhaupt erst einmal kennen lernen.«
 
Vertraut ist jedem zunächst primär die Musik aus dem eigenen Kulturbereich, wobei es bereits dort - je nach musikalischer Sozialisation - zahlreiche Musikstile gibt, die nicht sonderlich vertraut sind. Die Aneignung von zunächst fremd anmutender Musik in den eigenen Erfahrungsraum bewirkt eine Erweiterung des persönlichen Musikkonzepts. Dabei bleibt die interkulturelle Musikaneignung, durch Integration des Fremden in vorgeprägte Schemata und Erwartungsmuster, an das persönliche Erfahrungsinventar gebunden. Für den in Berlin lebenden Araber oder Inder hat die abendländische Musik die gleiche Fremdheit wie umgekehrt. Dass die Rezeptionshürde bei den international verbreiteten Avantgarde-Stilen deutlich höher als bei vielen Musiken fremder Kulturen ist, erklärt sich hauptsächlich aus der immensen strukturellen Komplexität der Partituren Neuer Musik.
 
Die von Karlheinz Stockhausen 1970 artikulierte Hoffnung, dass der »krasse Dualismus zwischen »alt« und »neu«, »traditionell« und »modern«, »primitiver Musik« und »Kunst-Musik« - ja auch »asiatischer« und europäischer Musik« aufgelöst worden sei, hat sich zwar bis heute in keiner Weise erfüllt. Trotzdem orientieren sich weltweit viele Komponisten, Musiker und Hörer am Konzept eines globalen friedlichen Gebens und Nehmens. Aus chinesischer Perspektive ist dies 1988 folgendermaßen formuliert worden: »Die Zeit ist gekommen, dass die Wasser im Mittelmeer, Pazifik und Atlantik auf dem geistigen, kulturellen und musikalischen Gebiet ineinander- und zusammenfließen, anstatt dass nur die Italiener, die Franzosen, die Deutschen und andere bezeihungsweise die Chinesen, die Inder, die Japaner und andere hauptsächlich innerhalb eines Kontinentes untereinander geben und nehmen, wie es vor hunderten beziehungsweise tausenden von Jahren der Fall war. Auf dem geistigen Gebiet kann es weder Überschwemmungen noch Katastrophen verursachen, wenn auch die Meere beziehungsweise Ozeane zusammenfließen.«
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
Literatur:
 
Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.