Akademik

Verhaltensauffälligkeiten
Verhaltensauffälligkeiten,
 
früher meist normativ als Verhaltensstörungen bezeichnete Besonderheiten des Verhaltens insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Der Terminus Verhaltensauffälligkeiten trägt der Subjektivität von Diagnostikern (z. B. Pädagogen, Ärzte, Psychotherapeuten) sowie deren persönlichen wie beruflichen Bezugssystemen Rechnung und berücksichtigt auch die Situationsspezifität »auffälligen« Verhaltens, das traditionell selbst bei vermeintlicher Offenkundigkeit und »Gestörtheit« nach (verdeckten) Normen bewertet und als »abweichend« und damit therapiebedürftig eingestuft wird. Andere Autoren plädieren demgegenüber für den Begriff Verhaltensauffälligkeiten, weil er zum Ausdruck bringe, dass ein Verhalten in einem sozialen Austauschprozess nicht den Erwartungen des Interaktionspartners entspreche und deshalb als abweichend oder auffällig wahrgenommen werde.
 
Genaue Zahlen zur Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten liegen nur für den angelsächsischen Bereich, nicht jedoch für den deutschsprachigen Raum vor. Den ausländischen Ergebnissen und einer neueren deutschen Studie zufolge ist von 10-20 % verhaltensauffälligen und behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen auszugehen. Bei Jungen werden dabei im Vergleich zu Mädchen etwa drei- bis viermal häufiger Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert, in erster Linie wegen des höheren Anteils aggressiver Verhaltensauffälligkeiten bei Jungen.
 
Folgende bedeutsame Ansätze lassen sich bei der Diagnostik und Therapie von Verhaltensauffälligkeiten unterscheiden: 1. Psychoanalytischer Auffassung zufolge sind Verhaltensauffälligkeiten das Ergebnis mangelnder psychischer Verarbeitung belastender oder konflikthafter frühkindlicher Erlebnisse und/oder Konstellationen und nur durch eine Bewusstmachung (»Aufarbeitung« im psychoanalytischen Sinne) abzubauen. 2. Die lerntheoretisch orientierte Verhaltenstherapie geht von der Annahme aus, dass bestimmte Lernprozesse Verhaltensauffälligkeiten bewirken oder fördern und Letztere nur über den Erwerb positiver (»unauffälliger«) Verhaltensweisen »verlernt« werden können, wobei positives wie negatives Verhalten nach denselben Lernprozessen beziehungsweise -gesetzmäßigkeiten entstehen soll. 3. Der Labeling-Approach sieht die Ursache für Verhaltensauffälligkeiten nicht in individuellen Zuschreibungen, sondern in gestörten oder zumindest auffälligen sozialen Interaktionen, die im Hinblick auf die erfolgreiche und dauerhafte Beseitigung der Verhaltensauffälligkeiten entsprechend zu modifizieren seien; das verhaltensauffällige Individuum wird darüber hinaus nicht als »gestört« etikettiert, sondern sein Verhalten kontextabhängig begriffen.
 
Das Spektrum der Verhaltensauffälligkeiten umfasst u. a. Ess- und Schlafstörungen, Einnässen, Einkoten, motorische Unruhe, Sprach-, Lern- und Konzentrationsstörungen, verschiedene Ängste (z. B. Ängstlichkeit in bestimmten Situationen, Schulangst), aggressives wie Rückzugsverhalten (Autismus) sowie dissoziale beziehungsweise delinquente Verhaltensweisen (z. B. Schulschwänzen, Streunen, sexuelle Verwahrlosung, Betrügereien und Eigentumsdelikte, Drogenabhängigkeit).
 
Mehr als die Hälfte aller Schüler weist im Laufe ihrer Entwicklung einzelne Verhaltensauffälligkeiten oder Lernbeeinträchtigungen auf, die nach neueren Erkenntnissen durchaus »normal« sind und deren Bewältigung zu einer gelungenen Persönlichkeitsreifung beiträgt. Als therapiebedürftig werden nach heutiger Auffassung nur solche Verhaltensauffälligkeiten angesehen, die länger als sechs Monate andauern. Davon zu trennen sind bleibende Verhaltensauffälligkeiten, die sich bei körper- oder sinnesbehinderten Kindern als sekundäre Folgen ihrer jeweiligen Behinderung, bei den Lernbehinderten als Folge ihrer mangelnden sozialen Kompetenz und Partizipationsmöglichkeit entwickeln.

Universal-Lexikon. 2012.