Intelligenzentwicklung,
An Kleinkindern wurden verschiedentlich über mehrere Jahre hinweg Untersuchungen über Verhaltensweisen durchgeführt, die von erwachsenen Beobachtern als »intelligent« eingestuft wurden. Mithilfe von Tests wurden diese Untersuchungen dann quantifiziert. Dabei ergab sich u. a., dass das im ersten und zweiten Lebensjahr festgestellte intellektuelle Niveau der Kinder fast gar nicht mit jenem im Alter von 14-18 Jahren korrelierte. Untersucht man entsprechende Daten mithilfe der Faktorenanalyse, so resultieren drei Faktoren: Den ersten dieser Faktoren kann man in Anlehnung an J. Piaget als sensomotorische Wachheit bezeichnen. Er dominiert in den ersten beiden Lebensjahren. Als intelligent erscheint in diesem Alter ein Kind, das beweglich ist und leicht auf Reize anspricht. Der zweite Faktor beherrscht zwischen zwei und vier Jahren das Bild. Er ist durch das Festhalten an einmal begonnenen Beschäftigungen, also durch Ausdauer und eventuell sogar durch trotzige Verhaltensweisen gekennzeichnet. Gegen Ende des vierten Lebensjahres gewinnt der dritte Faktor die Oberhand, von dem vermutet wird, dass er mit dem spearmanschen g-Faktor (Intelligenz) identisch ist. Erst ab diesem Alter erlauben Intelligenztests eine Voraussage über die zu erwartende Intelligenz im Erwachsenenalter.
Für die begabungstheoretische Diskussion seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre war neben der Anlage-Umwelt-Problematik vor allem dieser Aspekt der relativen Konstanz von Intelligenz über längere Zeiträume und damit wiederum das Problem ihrer Beeinflussbarkeit durch Umweltfaktoren (wie beispielsweise Kindergarten oder Schule) ein zentrales Thema.
Die folgenreichsten Befunde, die in der Frage der Verbesserung der Vorschulerziehung und einer Reform der Schule eine große Rolle spielten, hat B. S. Bloom geliefert. Seinen Aussagen, dass bei Vierjährigen bereits 50 % und bei Achtjährigen schon 80 % der späteren Erwachsenenintelligenz entwickelt seien, wurde großes Gewicht beigemessen. Hieraus wurde beispielsweise abgeleitet, dass eine durch soziokulturelle Benachteiligungen von Kindern während der Vorschulzeit entstandene kognitive Unterentwicklung durch spätere schulische Bemühungen in den meisten Fällen nicht mehr zu kompensieren sei.
Zusammen mit den fälschlich aus den Erblichkeitsschätzungen für die Intelligenz gezogenen Folgerungen waren Blooms Feststellungen dazu geeignet, entscheidende Argumente für eine Position zu liefern, nach der die kognitive Förderung durch die Umwelt nur beschränkt oder nur während weniger Jahre möglich ist.
Ebenso wie die in der Pädagogik oder in der Bildungspolitik vielfach irrig interpretierten Erblichkeitsschätzungen für die Intelligenz beruht auch der von B. S. Bloom skizzierte Entwicklungsverlauf der menschlichen Intelligenz auf nicht haltbaren Interpretationen einschlägiger korrelativer Beziehungen. Darauf hat besonders D. Hopf aufmerksam gemacht. Mindestens bis zur Adoleszenz muss mit erheblichen IQ-Schwankungen gerechnet werden, weshalb keine sicheren Voraussagen möglich sind. Es wäre deshalb verfehlt, zu irgendeinem Zeitpunkt der Kindheit oder des Jugendalters die Ausprägung der Intelligenz für so weitgehend abgeschlossen zu erachten, dass auf der Grundlage von Testergebnissen unwiderrufliche Entscheidungen getroffen werden dürften.
Unter strukturanalytischer Perspektive ist festzustellen, dass die Korrelationen zwischen den thurstoneschen Primärfaktoren der Intelligenz mit ansteigendem Lebensalter abnehmen. Mit diesem Sachverhalt scheint die Differenzierungshypothese (H. E. Garrett) der Intelligenz bestätigt zu werden, der zufolge mit zunehmendem Alter die Zahl der unabhängigen Intelligenzfaktoren zunimmt.
Die von K. H. Wewetzer und G. A. Lienert formulierte Divergenzhypothese der Intelligenz behauptet, dass zunehmende Intelligenz mit mehr Intelligenzfaktoren einhergeht.
Im Hinblick auf die pädagogische Förderung von Kindern und Jugendlichen im kognitiven Bereich sind die im Wesentlichen korrelationsanalytisch gewonnenen Ergebnisse über die Entwicklung der Intelligenz weit weniger informativ als solche Konzeptionen, die prozessorientiert die Intelligenzentwicklung zu erfassen suchen. Besonders anregend in diesem Zusammenhang sind die Untersuchungen der Genfer Schule und die durch sie beeinflussten entwicklungspsychologischen Strömungen. Auch neuere denkpsychologische Ansätze, wie z. B. die Vorschläge von D. Dörner, können der pädagogischen Praxis wertvolle Impulse geben. - Denkentwicklung.
Universal-Lexikon. 2012.