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Wiener Volkstheater
Wiener Volkstheater,
 
Bezeichnung für das in Wien Anfang des 18. Jahrhunderts mit dem Sesshaftwerden der Wanderbühnen entstandene Theater für die unteren und mittleren Bevölkerungsschichten, die keinen Zugang zu den Hofbühnen hatten. Den Beginn markiert der Erwerb des Kärntnertor-Theaters 1712 durch J. A. Stranitzky, der in seinen »Haupt- und Staatsaktionen« Belehrung und Unterhaltung, dramaturgische und stilistische Momente des Barocktheaters, der Oper und des Jesuitentheaters mit denen der Wanderbühnen verknüpfte und somit bereits die Stilmerkmale festlegte, die das Wiener Volkstheater bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmen sollten: Verbindung von Ernst (Stoffe des Hof- und Bildungstheaters) und Komik (Elemente der Komödie, lustige Figuren wie Hanswurst, J. F. von Kurz' »Bernardon«, J. J. Laroches Kasperl), Musik- und Balletteinlagen, Improvisation (Extemporieren, Stegreifspiel), illusionistischer »Bühnenzauber« (Theatermaschinerie), Sprach- und Stilmischung sowie Einbeziehung von Mythologischem und Märchenhaftem. Die »offene Dramaturgie« und das damit verbundene zeit- und gesellschaftskritische Potenzial führten zu staatlichen Zensurmaßnahmen (Extemporierverbot 1752, bis 1834 mehrmals erneuert), die zum Teil auf Argumente der gottschedschen Bühnenästhetik rekurrierten (»Hanswurst-Streit«); die Folgen dieser Bestrebungen (v. a. J. von Sonnenfels) waren aber gering und zeigten sich allenfalls in der Abkehr von den »Bernardoniaden«, Kurz- und Stegreifburlesken G. Prehausers, zugunsten der regelmäßig gebauten Stücke P. Hafners, die zugleich Höhe- und Endpunkt der ersten Phase des Wiener Volkstheaters markieren. In der Folge verlagerte sich das Wiener Volkstheater in die Vorstadt, wo mit dem Leopoldstädter (gegründet 1781), dem Wiedner (gegründet 1787, Neubau 1801 als »Theater an der Wien«) und dem Josefstädter Theater (gegründet 1788) neue Spielstätten entstanden waren; das Publikum umfasste sowohl adlige als auch bürgerliche Kreise. Hauptvertreter waren J. A. Gleich, K. Meisl, A. Bäuerle, E. Schikaneder und v. a. F. Raimund. Bevorzugte Gattungen waren - nicht zuletzt aufgrund der Zensurbestimmungen - das Besserungs- und das Zauberstück, bei denen der volkserzieherische und literarische Anspruch gegenüber der Komik und Zeitkritik in den Vordergrund trat. Eine gänzlich andere Facette des Wiener Volkstheaters zeigte sich in den Possen und Parodien J. N. Nestroys, wo Realitätsbezug und Satire dominierten, während Friedrich Kaiser (* 1814, ✝ 1874) mit dem »Lebens-, Charakter- und Sittenbild« das ernste Volksstück L. Anzengrubers vorbereitete (Volksstück). Die fortschreitende Kommerzialisierung des Theaterbetriebs, die nach 1848 wieder verschärfte Zensur und ein Struktur- und Geschmackswandel beim Publikum führten dazu, dass in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das Programm der Vorstadtbühnen zunehmend vom französischen Vaudeville und der Operette bestimmt und die Pflege des klassischen Wiener Volkstheaters und des neuen, ernsten Volksstücks zu einer Domäne des Bildungstheaters (z. B. des »Deutschen Volkstheaters«, gegründet 1889) wurde. Die für das Wiener Volkstheater grundlegende Wechselbeziehung zwischen Autor, Ensemble und Publikum hielt sich bis in die Gegenwart in »Tschauners Stegreifbühne« in Wien-Ottakring und im Kinder-Kasperltheater; auch im Straßentheater der 1970er-Jahre wurde diese Tradition zum Teil wieder aufgegriffen.
 
Literatur:
 
O. Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie (Wien 1952);
 E. J. May: Wiener Volkskomödie u. Vormärz (1975);
 
Viennese Popular Theatre, hg. v. W. E. Yates u. a. (Exeter 1985);
 
Das österr. Volkstheater im europ. Zusammenhang, 1830-1880, hg. v. J. M. Valentin (Bern 1988);
 
Hanswurstiaden. Ein Jh. Wiener Komödie, Beitrr. v. J. A. Stranitzky u. a. (Salzburg 1996);
 J. Hein: Das W. V. (31997).

Universal-Lexikon. 2012.