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episches Theater
episches Theater,
 
im engeren Sinn die in den 1920er-Jahren von B. Brecht entwickelte und (im marxistischen Sinn) theoretisch fundierte Form des modernen Theaters und Dramas; dem »aristotelischen« Theater entgegengesetzt. »Dramatisch« und »episch« werden dabei nicht als Gattungsbegriffe verstanden, sondern als Einstellungen und Methoden. Als »dramatisch« in diesem Sinn gilt die Form des Bühnenstücks, die durch eine in sich geschlossene Handlung dem Zuschauer die Illusion vermittelt, er wohne Vorgängen bei, für die er selbst nicht vorhanden sei (Szene und Personen sind hier vom Publikum durch eine imaginäre »vierte Wand« getrennt) und die ihn dank dieser Illusion »mitreißen«, in selbstvergessene Erregung (Trance) versetzen können. Im Gegensatz dazu heißen »episch« ein Bühnenvorgang und eine Darstellungsweise, die dem Publikum etwas »zeigen«. Grundstruktur ist dabei die Verfremdung (»V-Effekt«) der dramatischen Handlung, durch die der Darsteller sein völliges Aufgehen in der Rolle verhindert, während der Zuschauer zu einer kritischen Beobachtung des Gezeigten (im Sinne möglicher Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse) geführt werden soll. Zur unmittelbaren Darstellung auf der Bühne tritt die argumentierende Kommentierung der szenischen Aktion u. a. durch einen Erzähler, durch eingeschobene Lieder und Songs, durch Spruchbänder oder auf den Bühnenvorhang projizierte Texte. Der Schluss des Dramas bleibt in einem dialektischen Sinne offen. Missverstehende Auslegungen haben Brecht selbst bewogen, den Begriff episches Theater zuletzt als »unzureichend« zu bezeichnen; er gebrauchte stattdessen häufig die Bezeichnung »dialektisches Theater«. Als Vorstufen des »Theaters des Zeigens« sah Brecht v. a. Formen und Spielweisen des asiatischen Theaters an. Als paradigmatische Verwirklichung der Grundsätze des epischen Theaters gilt die Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Brecht und K. Weill (1930). 1922 veröffentlichte K. Kraus sein satirisches Stationendrama »Die letzten Tage der Menschheit«, das starken Einfluss auf die Dramatik Brechts und den Aufführungsstil E. Piscators ausübte. 1924 spielte Piscator die szenische Reportage »Fahnen« von A. Paquet mit dem Untertitel »episches Drama«. In jüngerer Zeit wurde die Tradition des epischen Theaters besonders von P. Weiss und Heiner Müller weitergeführt. - Elemente der epischen Dramaturgie finden sich auch in vielen Werken des modernen Musiktheaters, z. B. in I. Strawinskys »L'histoire du soldat« (1918), D. Milhauds »Christophe Colomb« (1930), P. Dessaus »Die Verurteilung des Lukullus« (1951) und L. Nonos »Al gran sole carico d'amore« (1975).
 
Im weiteren Sinn umfasst episches Theater jedes Schauspiel, das »erzählend« ohne strengen, auf dramatische Steigerung gerichteten Aufbau Bild an Bild reiht.
 
Literatur:
 
J. Eckhardt: Das e. T. (1983);
 M. Kesting: Das e. T. (81989);
 H. Heinze: Brechts Ästhetik des Gestischen (1992).

Universal-Lexikon. 2012.