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Lehrdichtung
Lehr|dich|tung 〈f. 20Dichtung, die auf unterhaltende Weise belehrt, z. B. Fabel

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Lehr|dich|tung, die (Literaturwiss.):
lehrhafte Dichtung.

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Lehrdichtung,
 
lehrhafte Dichtung, didạktische Dichtung, Sammelbegriff für Literatur, die auf die Vermittlung von Wissen beziehungsweise auf Belehrung in poetischer Form abzielt. Einige literarische Gattungen gehören zum Grenzbereich der Lehrdichtung: Fabel, Priamel, Parabel, Legende, Spruchdichtung, Gnomen, Beispiel. Die Lehrdichtung spielte im Altertum, Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine so bedeutende Rolle, dass sie, obgleich nicht immer eindeutig abgrenzbar, den drei literarischen Grundgattungen Lyrik, Epik und Dramatik als vierte, inhaltlich bestimmte Gattung an die Seite gestellt wurde (C. Batteux, J. G. Sulzer). Gegenstand der Lehrdichtung waren nahezu alle Wissensgebiete.
 
Die ältesten erhaltenen Lehrdichtungen (in Hexametern) sind Hesiods (um 700 v. Chr.) »Theogonie« und die »Erga«. Im 5. Jahrhundert v. Chr. folgten die philosophischen Lehrdichtungen der Vorsokratiker Xenophanes, Parmenides von Elea und Empedokles. - In der hellenistischen Literatur nahm die systematische wissenschaftliche Lehrdichtung einen breiten Raum ein; so behandelt Arat aus Soloi (3. Jahrhundert v. Chr.) Himmelserscheinungen (»Phainomena«), Nikandros aus Kolophon (2. Jahrhundert v. Chr.) Mittel gegen Schlangen- (»Theriaka«) und andere Gifte (»Alexipharmaka«). - Die älteste römische Lehrdichtung sind die »Heduphagetica« des Ennius. Von weit reichender Wirkung waren im 1. Jahrhundert v. Chr. Lukrez' »De rerum natura«, Vergils »Georgica« und Horaz' »Ars poetica«. Elegant-witzige Lehrdichtung stammt v. a. von Ovid (»Ars amatoria«; »Remedia amoris«, um 1 v. Chr.). - Die christlich-apologetische Lehrdichtung begann im 4. Jahrhundert mit Commodianus (»Instructiones«, »Carmen apologeticum«). Auch in den mittelalterlichen volkssprachlichen Literaturen war die Lehrdichtung die populärste Form der Wissensvermittlung, z. B. die altnordische Spruchsammlung »Hávamál« oder die mittelhochdeutschen Morallehren wie »Der welsche Gast« (1215/16) von Thomasin von Zerklaere, Freidanks »Bescheidenheit« (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts), »Der Renner« (1300) von Hugo von Trimberg. Neben diesen umfangreichen Werken findet sich bis ins Spätmittelalter in Europa eine Fülle von Stände-, Minne- und Morallehren, von moralischen Spruchsammlungen, Sittenspiegeln, Tischzuchten, Kalendern, Koch-, Schach-, Wahrsage- und Traumbüchern, ferner von naturphilosophischen Darstellungen in Vers und in Prosa. - Auch im Zeitalter des Humanismus hielt die Vorliebe für systematische, rhetorisch ausgeschmückte Lehrdichtung an: T. Naogeorgus' religiöse Lehrdichtung »Agricultura sacra« (1550), M. G. Vidas einflussreiche Poetik (1527), der N. Boileau-Despréaux' »L'art poétique« (1674) folgte. Die letzte fruchtbare Zeit für die Lehrdichtung war die Aufklärung. Breite Wirkung hatten die anthropologischen, philosophischen und religiösen Lehrdichtung von A. Pope (»An essay on man«, 4 Teile, 1732-33), J. Thomson (»The seasons«, 1730) u. a., in der deutschen Literatur insbesondere die Lehrdichtung von B. H. Brockes (»Irdisches Vergnügen in Gott«, 9 Bände, 1721-48), A. von Haller (»Die Alpen«, 1732), C. A. Tiedge (»Urania«, 1800); Schillers philosophische Gedicht »Der Spaziergang« (1795) und Goethes »Metamorphose der Pflanzen« (1799) sind auch herausragende Werke der Lehrdichtung. Im 19. Jahrhundert finden sich nur noch seltene Beispiele (u. a. F. Rückerts gnomische »Weisheit des Brahmanen«, 6 Bände, 1836-39); im 20. Jahrhundert ist die reine Lehrdichtung völlig verschwunden. Unabhängig davon verfolgen bis in die Gegenwart literarischer Werke aller Art und aller Nationalliteraturen didaktische Ziele.
 
Literatur:
 
L. L. Albertsen: Das Lehrgedicht (Aarhus 1967);
 B. Sowinski: Lehrhafte Dichtung des MA. (1971);
 P. Assion: Altdt. Fachliteratur (1973);
 C. Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung (1974);
 B. Boesch: Lehrhafte Lit. Lehre in der Dichtung u. L. im dt. MA. (1977);
 B. Effe: Dichtung u. Lehre (1977).

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Lehr|dich|tung, die (Literaturw.): lehrhafte Dichtung.

Universal-Lexikon. 2012.